Warum haben wir Angst vor dem großen bösen Wolf?

Märchen und Legenden 5/5. Vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert. Der Wolf, Liebling der Ökologen, ist heute Quelle von Mythen und Legenden und terrorisierte schon lange unsere Vorfahren. Nicht ohne Grund, erinnert die „Welt“. Zum Abschluss unserer Märchen- und Legendenreihe laden wir Sie ein, diesen zu diesem Anlass neu veröffentlichten Artikel zu lesen oder erneut zu lesen.
[Dieser Artikel wurde erstmals am 13. Dezember 2019 auf unserer Website veröffentlicht und am 14. August 2025 erneut veröffentlicht.]
Im Jahr 1744 unternahm Georg Wilhelm von Aschersleben, Präsident der Kammer von Stettin, Preußen [heute Stettin, Polen], eine Inspektionsreise nach Hinterpommern.
Seine Beobachtungen hielt er in Protokollen fest, die die seltenen zuverlässigen statistischen Daten aus einer Zeit enthalten, als der Wolf noch nicht der Liebling der Naturschützer, sondern vor allem ein Wildtier war. Laut Aschersleben wurden bei fünf seit 1738 organisierten Wolfsjagden 465 Tiere getötet. Im gleichen Zeitraum sollen die Raubtiere 4.294 Schafe, 2.343 Gänse, 1.858 Schweine, 1.571 Pferde, 808 Rinder und 125 Ziegen getötet haben.
Der Heidelberger Rechtshistoriker Andreas Deutsch konnte aus der Analyse von Gesetzestexten und Urteilen ableiten, was die Zeitgenossen von diesen Raubtieren hielten. Wenn beispielsweise eine Verordnung aus Lohr am Main aus dem Jahr 1425 vorsieht, dass die Kosten für die Jagd auf ein so gefährliches Tier zwischen der Stadt und den Jägern geteilt werden sollten, muss man davon ausgehen, dass dies keine Ausnahme war, sondern eine wiederkehrende Maßnahme im Kontext „fast alltäglicher Gefahr“.
Der Meißner Kodex (1357–1387) verpflichtete die Hirten dazu, ihr Vieh vor „Wölfen und Dieben“ zu schützen. Entkamen sie bei einem Angriff „unbeschadet von Wölfen“, war dies ein Beweis dafür, dass sie ihre Pflicht nicht erfüllt hatten, und ihnen drohte eine Gefängnisstrafe.
Auch die Mittel zur Wolfsbekämpfung waren strafbar. Wer beispielsweise versuchte, sich einer winterlichen Wolfsjagd zu entziehen, musste eine Geldstrafe zahlen. Passanten, die versehentlich in eine Wolfsfalle tappten, in der Schafe oder Gänse als lebende Köder dienten, konnten vom Verantwortlichen der Falle Schadenersatz verlangen. Die Herstellung mechanischer Wolfsfallen gehörte zu den Pflichten, die die Herren ihren Vasallen oder Leibeigenen auferlegten.
Weitere Folgen unserer Serie „Geschichten und Legenden“
Legenden reisen, werden weitergegeben und über Generationen und Kulturen hinweg verändert, ja sogar zu religiösen oder politischen Zwecken verdreht. Sie erzählen uns weiterhin von unserer Menschlichkeit und den Banden, die uns verbinden. Diese Resonanz in unserem heutigen Leben wollen wir mit dieser Serie erforschen: Von Grönland über Großbritannien bis in den Kongo – welche Bedeutung haben Geschichten heute?
Folge 1 – Der Aufbau des Stammbaums der Geschichten, ein wissenschaftliches Epos
Folge 2 – Grönland, das Land der Geister
Folge 3 – Der Mokélé-Mbembé, der in einen Dinosaurier verwandelte Geist des Kongo
Bis zum Ende des Hundertjährigen Krieges zwischen England und Frankreich war die Wolfspopulation rund um Paris so stark angewachsen, dass allein im Jahr 1438 zwischen 60 und 80 Menschen durch ihre Angriffe starben.
Ende der 1630er Jahre, mitten im Dreißigjährigen Krieg, herrschten derart große Unruhen, dass Chronisten in Darmstadt berichten mussten, kein Pferd sei vor Wölfen sicher. In Waren [in Ostdeutschland] stellten Überlebende des Konflikts mit Entsetzen fest, dass Wölfe ihre Toten fraßen. In Württemberg wurden zwischen 1639 und 1678 4.000 Wölfe getötet – ein weiterer Beweis für die außergewöhnliche Verbreitung dieser Tiere.
Als sich die Reste der Grande Armée 1812 in ihre Heimat zurückzogen, wurden sie nicht nur von den Kosaken, sondern auch von Wölfen gejagt. Diese fanden dort, entlang der Straßenränder, wo Zehntausende Leichen lagen, eine leicht zugängliche Nahrungsquelle und drangen so nach Mitteleuropa ein. Die Zivilbevölkerung litt darunter. Allein in der Region Posen fielen in den Jahren 1814/15 Berichten zufolge 28 Kinder Rudelüberfällen zum Opfer. Noch im Ersten Weltkrieg gab es Berichte über Verletzte und Tote durch Wolfsangriffe aus Masuren und den Karpaten.
Wölfe hatten sich an Menschenfleisch gewöhnt, doch das war nicht die einzige Gefahr, die sie fürchten mussten. Sie brachten auch die Tollwut mit, die sie noch aggressiver machte und gegen die es kein Heilmittel gab. Andreas Deutsch berichtet beispielsweise von einem Vorfall, der sich 1815 in Bad Neuenahr-Ahrweiler [in Rheinland-Pfalz] ereignet haben soll.
[Den Quellen zufolge] griff ein Wolf zunächst einen Reiter und zwei Frauen an. Als er dann eine weitere Frau angriff, wurde er von einem Landarbeiter aufgehalten, dem er die Nase abriss. Anschließend griff das Tier drei weitere Männer und drei Kinder an, bevor es schließlich von einem mutigen Heumacher getötet wurde. Alle Verletzten starben. Erst der französische Chemiker Louis Pasteur entwickelte 1885 einen Impfstoff, der die tödliche Bedrohung durch Tollwut endgültig beendete.
Tollwut soll auch der Grund für die mythische Übertreibung der Wolfsgefahr sein. In der Appenzeller Chronik aus dem Jahr 1537 findet Andreas Deutsch folgende Erwähnung: „Wölfe trieben überall großes Unheil; ihr Biss war so giftig, dass die Männer, die darunter litten, wie Wölfe heulten, bevor sie starben.“ Es war nur ein kleiner Schritt, sich vorzustellen, wie sich jähzornige Männer in das sagenumwobene Wesen Werwolf verwandeln. Auch die Protokolle von Hexenprozessen sind voll von Lykanthropie-Vorwürfen.
Wie viele Menschen in Europa im Laufe der Geschichte Wölfen zum Opfer gefallen sind, lässt sich nicht sagen, so Deutsch. In Frankreich geht der Historiker Jean-Marc Moriceau von 10.000 Angriffen aus. Eines ist jedoch sicher: Der Schrecken, den der Canis lupus auslöste und der in Chroniken, Sagen und Märchen überliefert wird, hat tatsächlich seine Wurzeln in der Realität.