Syrien ist befreit von Asad. Doch das Land ist tiefer gespalten als zuvor. Impressionen von einer Reise in mein Heimatland


Meine letzte Reise nach Damaskus war nicht einfach. Genauso wenig wie die beiden ersten und vielleicht auch alle zukünftigen Reisen. Wenn du deinen Herkunftsort einmal verlierst, hast du ihn für immer verloren. So werde ich es mir immer wieder vorsagen, wenn ich mein Gedächtnis und meine Erinnerungen unter Kontrolle bringen muss.
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Wie oft habe ich meine Mutter in den letzten vierzehn Jahren angefleht, mit dem Heimwehhaben aufzuhören und sich stattdessen mit einem gewissen Mass an Sehnsucht zu begnügen. Sie solle einfach nicht übermässig oft an ihre Stadt, ihre Wohnung, ihr Viertel und ihre Nachbarn denken. Denn diese Sehnsucht ist hinterhältig. Der Verlust wird nicht durch Rückkehr ausgeglichen, und der Ort ist heute nicht mehr der gleiche, den wir 2011 verlassen haben. Genauso wenig wie wir die Gleichen sind.
Die lange vergangene Zeit ist nicht still an uns vorübergezogen, und wir waren nicht nur unbeteiligte Zuschauer. Sie hat uns verändert, entstellt, unser Gefühl der Zuversicht erschüttert, unsere Häuser zerstört, unsere Identität annulliert und unsere Zugehörigkeit zerschlagen. Wir sind zu politischen Gefangenen geworden, zu Gefolterten und Opfern von Gewalt und Chemiewaffen, zu Flüchtlingen, über die die Nachrichten berichten und die von Politikern in Wahlkämpfen benutzt werden und über deren Schicksal die Parteien streiten.
Wir sind zu Witwen und zu Trauernden geworden, wir sind dem Tod entkommen, wir sind traumatisiert, verunsichert und krank. Wir sind zu einer Geschichte und einem Bild geworden. Wir sind zur «Caesar Act» geworden, zu Kunstausstellungen, zu Kino- und Dokumentarfilmen.
Die wiedererwachte ZugehörigkeitMein letzter Besuch im Mai war eine Prüfung für mein Gedächtnis, die Geschichte, die Emotionen und auch mein Muttersein. Ich bin in Begleitung meines Sohnes Saad gefahren. Er hatte sein Damaskus im Alter von sechs Jahren verlassen und kam nun mit zwanzig wieder. Vierzehn Jahre, in denen ich geglaubt hatte, er sei einverstanden mit der Situation und habe sich damit abgefunden, in vielen Städten und Wohnungen zu leben.
Ich habe ihn Jahr für Jahr älter werden sehen, ich habe ihn beobachtet, ohne mir zu wünschen, dass er rasch heranreift, und ohne seine Zugehörigkeiten und seine Identität herauszufordern. Ich hatte ihn für ein Kind der Zeit gehalten, mehrere Kulturen, Sprachen und Temperamente in sich vereinend. Und erst am 8. Dezember 2024 fiel mir auf, wie dringend er nach seiner Identität und Zugehörigkeit suchte.
Dieses Bedürfnis war unterdrückt gewesen, verborgen, vielleicht hatte er es ignoriert, bis er in jener Nacht seine Identität zurückerhielt, als Bashar al-Asad floh und mit ihm eine dunkle Epoche der Geschichte Syriens. Ich hatte geglaubt, dass der Mensch zu dem Ort gehört, an dem er lebt, wo er in die Schule geht und dessen Sprache er spricht. Ich hatte geglaubt, dass Identität Formsache sei.
Ich war erstaunt über die grosse Freude, die aus seinen Augen strahlte, als er per Video aus seinem Studentenzimmer in Leeds mit mir sprach. Wo hatte er all die Jahre die Idee von Heimat verborgen gehabt? Und dieses Gefühl der Zugehörigkeit, welche Form hatte es, welchen Geruch und welche Farbe? Meine Mutter sehnte sich nach der Vergangenheit, nach sieben Jahrzehnten eines Lebens in Damaskus, sie sehnte sich nach den Theaterbühnen und nach den Wohnungen, in denen sie gewohnt hatte, und den Vierteln, durch die sie gelaufen war. Sie sehnte sich nach ihrer Arbeit, ihren Freundschaften und Erinnerungen.
Aber wonach sehnte sich ein zwanzigjähriger Junge, der seine Stadt mit sechs Jahren verlassen hatte und sich vielleicht an gar nichts mehr erinnern konnte? Ich glaube, dass seine Sehnsucht der meiner Mutter ähnelt, eine Mischung aus Imagination, phantasierten Orten, sehnlichster Erinnerung und dem Bedürfnis nach einem Orientierungspunkt, den wir hüten wie unser Augenlicht, um uns nicht zu verlieren.
Als ich Damaskus beim letzten Mal verliess, wurde mir bewusst, dass die Rückeroberung der Orte nicht die Rückeroberung der Zugehörigkeit und der Heimat bedeutet. Und dass auch die Fremdheit nicht gewichen ist, die ich in all den Jahren in Syrien empfunden hatte.
Geflohen vor dem neuen RegimeVor einer Woche sassen wir – meine Mutter, mein Mann, meine Freundin Itab, ihre Familie und ich – beim Abendessen um einen grossen Tisch herum. Wir befanden uns im Garten eines im viktorianischen Stil erbauten Hauses, in dem Itab und ihr britischer Mann Jack leben. Itabs Vater ist der berühmte syrische Schriftsteller Mamdouh Azzam, mit dem ich seit über zwanzig Jahren befreundet bin.
Uns verband das Schreiben, gemeinsame Freundschaften und unsere Opposition gegen das Asad-Regime. Wir träumten von Veränderung und glaubten an das Schreiben als Mittel zum Widerstand gegen diese überwältigende Fremde im Land der Despoten. Mitte 2012 bin ich mit meiner Familie nach Beirut geflohen und 2017 von dort nach London. Deshalb trafen wir uns nur noch selten, und unsere Gespräche drehten sich meist um Diaspora und Asyl, um die Schrecken von Verhaftung und Entführung, um die fehlende Sicherheit, den Strom- und Wassermangel, die Kälte im Winter und die Hitze im Sommer, die ungenügende Versorgung mit Grundnahrungsmitteln und den Engpass bei Benzin.
Mamdouh lebte mit seiner Frau Dunja weiterhin in Syrien, zum Teil in Suweida, zum Teil in dem Haus, das er vor fünfzig Jahren Stein für Stein in seinem drusischen Dorf Taara gebaut hatte. Ich erinnere mich noch daran, wie er vor genau zehn Jahren darüber geklagt hatte, dass er wegen seines Widerstands gegen das Regime nicht mehr in seinem Dorf leben könne.
In jener Zeit waren die Drusen zerrissen zwischen Oppositionellen und Regimetreuen. In seinem Dorf kam es zu zahlreichen bewaffneten Konflikten. Mamdouh konnte es inmitten einer Mehrheit von Regimeanhängern, den sogenannten Shabiha, nicht mehr aushalten. Er zog in die Stadt Suweida, wo die Menschen in der Menge untergehen und die Vertrautheit der Dörfer nicht existiert. So oft sie uns in London besuchten, versuchte ich, sie zu überreden, Asyl zu beantragen.
Ich tat es aus Angst um sie und dem Wunsch, sie bei uns zu haben. Ich flehte sie an, nach Grossbritannien zu kommen, zumindest nach Europa, wo sie weniger weit entfernt von uns wären, denn die vergangenen Jahre haben mich gelehrt, dass Freunde Heimat und Sicherheit bedeuten. Mamdouh aber lehnte entschieden ab. Er schaute mir direkt und selbstsicher in die Augen und sagte, er könne unmöglich sein Haus verlassen, es sei denn, er sei dazu gezwungen.
Angst vor der Rückkehr nach SyrienAber war es denn überhaupt möglich, unter diesen Bedingungen dort zu leben? Für die beiden war es möglich gewesen, zumindest bis Mitte Juli dieses Jahres. Ist es zu glauben, dass sich jemand, der die Grauen des Krieges zwischen 2011 und 2024 überstand und den unmenschlichen Lebensumständen, wie er sie stets beschrieb, trotzte, nach der Befreiung nicht in Sicherheit bringen konnte?
Ist es zu glauben, dass Mamdouh Azzam, der vierzehn Jahre das Ende des Regimes herbeigesehnt hatte, heute zum Flüchtling geworden ist? Und dass ich, die ich vierzehn Jahre lang von Rückkehr träumte und nicht zurückkehren konnte, nun zurückkehren kann und es nicht möchte? Sogar meine Mutter, deren Kummer und Heimweh nach ihrem Zuhause wir ein ganzes Jahrzehnt umsorgt haben, weigert sich zurückzukehren. Sie habe Angst, sagt sie, und was sie von ihren Freunden über Damaskus höre, bestätige ihr, dass es nicht mehr das Damaskus sei, das sie verlassen habe und nach dem sie sich sehne.
Ich habe Mamdouh gefragt, was ihn heute dazu zwingt, in ein Land zu fliehen, dessen Sprache er nicht spricht und dessen unbeständiges, düsteres Wetter er nicht mag. Er antwortete voll Bitterkeit, dass er keinen Ort mehr habe, an den er zurückkehren könne. Die Beduinenstämme hätten sein Dorf und andere Dörfer überrannt, zusammen mit den Sicherheitskräften, die der neuen syrischen Regierung unterstünden. Sie hätten Häuser zerstört, Pflanzen und Bäume angezündet und das Haus, das er und Dunja mit eigenen Händen gebaut hätten, niedergerissen.
Auch die Bücher seiner Bibliothek hätten sie in Brand gesetzt. In welches Haus solle er zurückkehren? In welches Dorf und in welches Land? Seine Geschwister seien in einer finsteren Nacht aus ihren Häusern geflohen, in Schlafanzügen, unter dem Eindruck von Schüssen, Schreien, Hilferufen. Sie sind zu einem Zeitpunkt geflohen, als wir dachten, die Zeit des Fliehens sei vorbei, die Flucht selbst sei mit seinem Erfinder Bashar al-Asad in der Nacht des 8. Dezember geflohen.
Das neue Regime gleicht dem altenBis heute habe ich mich nicht getraut, das Dorf meines Vaters an der syrischen Küste zu besuchen. Während die Trennlinien vor Beginn und während der Revolution deutlich erkennbar waren, ist diese Grenze heute verschwunden. In ganz Syrien ist jetzt jederzeit alles möglich. Die Angst, die klare Konturen hatte, ist diffus geworden, und es ist schwer auszumachen, vor wem wir uns fürchten müssen. Die Shabiha treiben noch immer ihr Unwesen, nur dass sie nun nicht mehr Anhänger der Asad-Familie sind, sondern von Ahmed al-Sharaas Regierung und seinen Männern.
Es wird eng für das freie Wort, die Meinungsfreiheit ist permanent vom Vorwurf des Verrats bedroht. Es sind genau dieselben Vergehen, die einem jeden Oppositionellen jahrzehntelang unter der Asad-Regierung unterstellt werden konnten. Wieder sind die Syrer zum Zuschauen verurteilt. Weder dürfen sie den Wandel mitgestalten noch sich politisch, intellektuell oder gesellschaftlich ins öffentliche Leben einmischen.
Dreimal war ich in Damaskus. Nie habe ich mich getraut, meine Verwandten in dem Küstendorf zu besuchen, in dem ich während der Revolution für vogelfrei erklärt worden war. Doch dieses Mal hatte ich nicht nur Angst vor meiner Familie, den Dorfbewohnern oder den Nachbarn und den Shabiha, sondern auch vor den Mitgliedern der neuen Regierung. Einige von ihnen machen keinen Unterschied zwischen dem alten Regime und den Alawiten.
Ich hatte Angst vor der Strasse, die Damaskus mit Tartus verbindet und über Homs führt, wo es nach der Befreiung in sunnitisch-alawitisch gemischten Stadtvierteln zu zahlreichen Zusammenstössen gekommen war. Ich hatte Angst vor Strassenräubern, die das Asad-Regime «unkontrollierte Banden» genannt hatte, die die Sicherheit gefährden, während das neue Regime sie – dem alten ganz ähnlich – «Bewaffnete» und «unkontrollierte Elemente» nennt.
Neun Monate nach der Befreiung Syriens schreibe ich nun über verfeindete Religionsgemeinschaften, über die Angst, die nach dem Anschlag auf die Kirche Mar Elias in Damaskus und den gewaltsamen Zusammenstössen in Suweida grösser geworden ist und die uns alle zu verschlingen droht.
Mein Cousin war in seinem Dorf vielleicht der Einzige, der in Opposition zum Asad-Regime ging. In der Nacht, als das Asad-Regime zusammenbrach, sprach er mit vor Freude zitternder und erstickter Stimme mit mir. Drei Monate nach der Befreiung zitterte seine Stimme vor Angst, und so ist es bis heute. Anfangs hielt ich seine Angst für übertrieben. Aber die Zeugenaussagen der Bevölkerung in der Küstenregion und die Berichte über Massaker an den Alawiten haben mich zum Schweigen gebracht.
Wie können wir schlafen, wenn auch nur ein einziger Syrer Angst hat und damit rechnet, abgeschlachtet, verhaftet oder entführt zu werden, nur weil er einer Religionsgemeinschaft angehört, die durch die Politik des vorherigen Regimes in eine politische Gemeinschaft verwandelt wurde? Wie soll das Leben unter dem Druck dieser eng gefassten Zugehörigkeiten weitergehen? Wie kann ein Land ohne professionelle und unabhängige Medien, ohne Transparenz – und ohne dass die Verbrecher zur Rechenschaft gezogen werden – wiederaufgebaut werden?
Während der Revolution waren die Syrer in Oppositionelle und Regimeanhänger gespalten, in Inlandsyrer und Auslandsyrer. Doch heute werden wir Zeuge von erheblich gefährlicheren Spaltungen, die weit über das «für» und «gegen» hinausgehen. Heute werden die Menschen, je nach konfessioneller Zugehörigkeit, in Schubladen gesteckt. Der Alawit gilt als «Überbleibsel des alten Regimes», der Druse als «Verräter», der Gegner des neuen Regimes als «Waisenkind» des Asad-Regimes. Und wer die Politik des neuen Regimes unterstützt, wird als rückständiger IS-Anhänger denunziert, der andere des Unglaubens bezichtigt, Unterdrückung gutheisst und sich freut, wenn syrisches Blut vergossen wird.
Die neuen und komplizierten Verhältnisse sind eine düstere Erbschaft der beiden Asad-Regime. Sie begingen alle Arten von Vernichtung, Ausbeutung, Raub, Marginalisierung, Unterdrückung, Verhaftung, Mord, Folter.
Die Volksgruppen grenzen sich abIch sitze mit Freunden zusammen, einige kenne ich seit drei Jahrzehnten. Zusammengeführt haben uns der Mut zur Unterschiedlichkeit und der Widerstand gegen das Unrecht. Heute bemerke ich, wie sie sich in sich selbst und ihre Religionsgemeinschaften zurückgezogen haben. Menschen aus Damaskus, Homs, Hama und Aleppo, deren Gefühl für ihre sunnitische Zugehörigkeit sich verstärkt hat und die nach jahrzehntelanger Marginalisierung nun zu einer politischen Religionsgemeinschaft geworden sind.
Alawiten, die mehr als je zuvor zur Minderheit wurden und die ihre überlieferten Opfergeschichten neu aufrollen, die sich in ihren Regionen verschanzen und sich vor den Fremden auf ihrem Territorium fürchten. Sie lassen sich nicht davon überzeugen, dass dieser Fremde auch Syrer ist.
Drusen, die in der neuen Regierung ein anderes Asad-Regime sehen, von dem sie sich bedroht fühlen, da es ihre Einheit zerstören und ihre Unabhängigkeit abschaffen will. Kurden, die nur ihren eigenen Führer als Führer für ganz Syrien mit seinen vielen Religionen und Konfessionen anerkennen wollen. Christen, die verängstigt sind und noch immer unter dem Schock des terroristischen Anschlags auf eine Kirche in Damaskus stehen.
Und im Hintergrund steht eine grosse Gruppe von Syrern, die sich nicht darum schert, was geschieht, weder an der Küste noch in Suweida noch im Palast der Republik. Es ist die gleiche Gruppe, die tief geschlafen hat, als das Umland von Damaskus mit Chemiewaffen angegriffen und ausgelöscht wurde. Ein Beobachter könnte sagen, dass Präsident Sharaa heute genauso Anlässe besucht, im öffentlichen Raum erscheint, Delegationen empfängt und Reden hält wie Bashar al-Asad, der damals durch die Gegend stolzierte, während seine Truppen die Syrer auslöschten.
Sharaa ist nicht Bashar al-Asad, und die Feindschaft zu Israel hat seit dem Krieg in Gaza, nach der Ermordung des Hizbullah-Anführers Hassan Nasrallah und nach der iranischen Intervention in Syrien an Schärfe verloren. Aber Tatsache ist, dass Syrien schon seit Jahrzehnten nicht mehr den Syrern gehört und dass die Diktatur der Asad-Familie das Land zerstückelt und verletzlich gemacht hat. Die neue Regierung hat, trotz ihrer Absicht, das Land zu befreien, die Spaltungen verstärkt. Vielleicht hat sie geglaubt, dass die «sunnitische Parteinahme» allein in der Lage sein werde, die Vielfalt zu unterdrücken und die abweichenden Stimmen zum Schweigen zu bringen.
Klarer, realer und auch schmerzhafter denn je lautet heute die Frage: In welches Syrien werden wir zurückkehren?
Dima Wannous, 1982 in Damaskus geboren, ist Schriftstellerin und lebt seit 2017 im Exil in London. – Aus dem Arabischen von Larissa Bender.
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