Raus aus dem Dauerstress – wie wir wieder in Balance kommen

Beruf, Familie, ständige Erreichbarkeit: Immer mehr Menschen erleben das Gefühl, nur noch zu funktionieren – ohne Pause, ohne Puffer. Sie hetzen durch den Alltag, verlieren das Gespür für sich selbst und laufen auf Reserve. Die körperlichen und psychischen Folgen zeigen sich oft erst, wenn es fast zu spät ist.
Doch was genau ist Stress eigentlich – und wie kann man besser damit umgehen?
Stress wird von vielen Menschen eher als etwas Unangenehmes angesehen. Aber: „Ein Leben ganz ohne Stress wäre nicht nur unrealistisch, sondern vermutlich auch nicht besonders lebenswert“, sagt Mazda Adli, Chefarzt der Fliedner Klinik Berlin und Leiter des Forschungsbereichs Affektive Störungen an der Charité. „Die Fähigkeit, Stress zu empfinden, sichert unser Überleben“, so Adli.
Und das hat evolutionäre Gründe, wie Magdalena Wekenborg, Psychobiologin und Forschungsgruppenleiterin am Else Kröner Fresenius Zentrum für Digitale Gesundheit (EKFZ), erklärt: „Früher stand plötzlich ein Säbelzahntiger vor uns und wir mussten reagieren.“ Bei einer akuten Bedrohung war und ist Stress also eine gesunde Reaktion: Der Körper mobilisiert Energie, um Herausforderungen zu bewältigen, Probleme zu lösen oder Gefahren zu entkommen. „Auch psychisch macht uns Stress wacher und handlungsbereit. In vielen Situationen – sei es ein Vortrag oder ein sportlicher Wettkampf – ist dieser Zustand sogar notwendig, um Leistung bringen zu können“, sagt Wekenborg.
Das Problem an Stressoren aus dem heutigen Alltag: Projekt-Deadlines oder familiäre Konflikte zögen sich oft über Wochen und Monate. Das bedeutet: Wenn der Stress chronisch wird und Erholungsphasen ausbleiben, verliert der Organismus seine Regenerationsfähigkeit – und das kann auf Dauer krank machen. „Nicht nur psychisch, sondern auch körperlich“, so Adli.
Stress werde demnach vorrangig dann gesundheitsschädlich, wenn er als „unkontrollierbar, unvorhersehbar und dauerhaft erlebt wird”. Dauerstress steht dem Mediziner und Stressforscher zufolge im Zusammenhang mit Depressionen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Bluthochdruck und Stoffwechselstörungen.
Während manche Menschen mit Stress gut umgehen können, überfordert er andere viel schneller. Wie kann es sein, dass Stress von verschiedenen Menschen so unterschiedlich wahrgenommen wird?
„Wie stark wir Stress empfinden, hängt nicht allein vom äußeren Auslöser ab – sondern vor allem davon, wie wir ihn innerlich bewerten“, erklärt Wekenborg. Entscheidend sei demnach nicht nur, was passiert – sondern wie jemand die Situation einschätzt und ob er oder sie glaubt, damit umgehen zu können. „Wer eine schwierige Aufgabe als Herausforderung begreift, fühlt sich eher motiviert. Wer dieselbe Situation als Überforderung empfindet, erlebt Stress”, so Wekenborg. Dieses Wechselspiel zwischen äußerem Reiz und innerer Bewertung erkläre demnach, warum Menschen so unterschiedlich auf Belastungen reagieren.
Interessant dabei: „Unsere innere Haltung zu Stress wirkt wie ein Filter“, sagt Wekenborg. In einer Studie mit Klinikpersonal während der Corona-Pandemie zeigte sich: Personen, die Stress grundsätzlich als etwas Hilfreiches betrachteten – also als etwas, das dabei unterstützt, mit schwierigen Situationen umzugehen – berichteten seltener von emotionaler Erschöpfung, unabhängig davon, wie stark sie objektiv belastet waren.
Der dahinterliegende Mechanismus: „Wenn ich in einer belastenden Situation Stress empfinde und gleichzeitig überzeugt bin, dass Stress etwas Schlechtes ist, steigert das meine Anspannung zusätzlich. Glaube ich hingegen, dass Stress grundsätzlich etwas Sinnvolles und Anpassungsfähiges ist, kann mich diese Haltung beruhigen – ich weiß dann: Stress ist nicht automatisch gefährlich“, erklärt Wekenborg.
Aber auch Umweltfaktoren spielen bei dem Stresserleben eine wichtige Rolle: Laut Adli reagieren Menschen, die in der Stadt leben oder aufgewachsen sind, sensibler auf Stress. „Wir sehen in bildgebenden Studien, dass die stressverarbeitenden Hirnregionen bei Stadtmenschen stärker feuern als bei Menschen vom Land“, erklärt er. „Ihre Stressantennen springen schneller an – was sinnvoll sein kann, aber auch das Risiko für psychische Erkrankungen erhöht.“
Aber woher weiß man, dass viel Stress zu viel Stress ist? Wekenborg erklärt, dass es messbare Frühindikatoren für kritischen Stress gebe – etwa die Herzratenvariabilität. Dieser Wert beschreibt, wie flexibel das Herz auf wechselnde Anforderungen reagiert. „In Studien konnten wir zeigen, dass eine dauerhaft niedrige Herzratenvariabilität das Risiko für Erschöpfung und Burn-out deutlich erhöht.“ Dieser Wert lässt sich beim Hausarzt oder bei Kardiologen ermitteln und kann so einen Hinweis auf das eigene Stresslevel geben.
Wichtig ist es aber nicht nur, Stress zu erkennen, sondern auch etwas dagegen zu tun. Schon einfache Atemtechniken können etwa helfen, akuten Stress abzubauen. Wekenborg empfiehlt das sogenannte Slow-Paced Breathing – etwa vier Sekunden einatmen, sechs Sekunden ausatmen. „Das aktiviert das parasympathische Nervensystem, das für Entspannung zuständig ist.“ Diese Übung wirke nicht nur unmittelbar – wer sie regelmäßig praktiziere, trainiere langfristig seine Stressresilienz.
Auch Achtsamkeitsübungen – etwa das bewusste Wahrnehmen von Geräuschen, Gerüchen oder Berührungen – können Wekenborg zufolge helfen, im Moment anzukommen und aus der Gedankenspirale auszubrechen. Adli rät generell dazu, Selbstfürsorge bewusst in den Alltag zu integrieren – nicht erst, wenn der Körper Alarm schlägt. „Der Körper braucht Regeneration – und zwar regelmäßig“, so Adli. Bewegung, Pausen, Musik, Natur – all das helfe, den Stresspegel zu senken.
Einer der wichtigsten Schutzfaktoren überhaupt ist den Fachleuten zufolge aber zwischenmenschliche Verbundenheit. Wer über tragfähige Beziehungen verfüge, sich austauschen könne oder einfach spüre, nicht allein zu sein, erlebt Adli zufolge belastende Situationen weniger bedrohlich. „Wir haben ein soziales Gehirn“, sagt er. „Nähe, Austausch und Unterstützung sind essenziell.“ Auch Wekenborg bestätigt: „Soziale Verbundenheit ist einer der stärksten Stresspuffer, die wir haben – und sie kostet nichts.“
Darüber hinaus können Wekenborg zufolge aber auch äußere Veränderungen nötig sein: „Neben individuellen Strategien braucht es oft auch strukturelle Entlastung – im Job, in der Familie, im Alltag.“ Wer dauerhaft überfordert sei, müsse sich nicht nur fragen, wie sie oder er besser mit Stress umgehen könne, sondern auch, woher er eigentlich komme.
Eines ist den Fachleuten zufolge aber besonders wichtig: „Stressbewältigung darf nicht zur zusätzlichen Aufgabe werden“, warnt Wekenborg. Es sei problematisch, wenn die Verantwortung ausschließlich beim Individuum liege – etwa ausschließlich durch Appelle zu mehr Achtsamkeit oder Resilienztraining. „Viele strukturelle Belastungen lassen sich nicht wegatmen”, so die Psychobiologin. Der Grund dafür: „Unsere Welt ist komplexer geworden, Stressoren nehmen zu – auch strukturell. Es wäre falsch, Betroffene dafür verantwortlich zu machen, dass sie überfordert sind, während andere scheinbar gelassen bleiben“, so Wekenborg.
Adli setzt sich für ein gesellschaftliches Umdenken ein: Stressprävention müsse früh ansetzen. „Wir brauchen eine Kultur, in der mentale Gesundheit genauso ernst genommen wird wie körperliche. Stresskompetenz gehört genauso in den Alltag wie das tägliche Zähneputzen – und idealerweise auch in den Schulunterricht”, so Adli.
rnd