Reisebildband: Zu Fuß in den Süden

Wer heutzutage eine außergewöhnliche Reise unternimmt und darüber ein Buch veröffentlichen möchte, der kann nicht einfach drauf losfahren und -schreiben. Erstens braucht es eine Motivation, die potenzielle Leserinnen und Leser inspiriert. Da eignen sich die Bewältigung von Traumata, eine Selbstfindung oder zumindest die Erfüllung eines Lebenstraums ziemlich gut. Und dann muss diese Reise auch noch auf irgendeine Weise originell sein, um auf dem Buchmarkt eine Chance zu haben. Mindestens also sollte man rückwärts radeln oder irgendein possierliches Tier dabei haben. Die Tollkühnheit des Unterfangens macht man tunlichst schon durch einen Superlativ im Buchtitel kenntlich.
Wie anders der Schriftsteller und Reisende Johann Gottfried Seume, der die Schilderung seines großes Lebensabenteuers ganz lapidar und bescheiden einen „Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802“ betitelt hat. Startpunkt war damals Grimma südlich von Leipzig. Die Strecke, die er zurücklegte, beträgt mehr als 2500 Kilometer. Den weitaus größten Teil davon ist Seume zu Fuß gegangen. Seine dokumentarische Reiseerzählung ist längst ein Klassiker. These: Weil es darin nicht so sehr um ihn selbst geht, sondern man etwas über das damalige, zersplitterte Europa inmitten einer - wenn auch vergleichsweise ruhigen - Phase der Napoleonischen Kriege erfährt.

Der Autor und Fotograf Eric Pawlitzky ist nun Seumes Spuren gefolgt. Das war nicht ganz einfach: „Aus Poststraßen wurden Autobahnen“, schreibt Pawlitzky im Vorwort seines ausnehmend liebevoll gestalteten Buches „Seumes Weg“. Und Seume hat seine Route auch nicht akribisch festgehalten. Pawlitzky hat deshalb nach historischen Verkehrswegen recherchiert und zeitgenössische Karten zu Rate gezogen, musste letztlich aber seinen eigenen Weg finden. „Gleichwohl“, das betont er, „habe ich alle von Seume erwähnten Stationen tatsächlich besucht“.

Wo Seume mit einer Kutsche gefahren ist, hat Pawlitzky einen Bus oder die Bahn benutzt oder ist getrampt. Von Venedig ist er, wie Seume, per Boot über die Brenta nach Padua gelangt. 2700 Kilometer beträgt die Strecke, ohne jene über das Meer von Neapel nach Palermo, 2160 davon ist er gewandert. 105 Tage war Eric Pawlitzky unterwegs, einschließlich einiger Ruhetage, von Anfang September bis Mitte Dezember 2022. Er hat sich für diese Tour eine charmante, seinem Projekt sehr dienliche Regel auferlegt: Alle fünf Kilometer hat Pawlitzky, egal, wo er gerade stand, jeweils ein Foto gemacht.
Rund 2000 Aufnahmen sind auf diese Weise entstanden, für jeden Tag hat er eine ausgewählt. Sein Buch „Seumes Weg“ wird bestimmt von diesen Bildern. Sie versammeln nicht die Sehenswürdigkeiten entlang der Strecke. Pawlitzky bezieht sich auf das von William Eggleston formulierte Prinzip des democratic view: Fotografien von architektonisch fragwürdigen Vorstädten stehen gleichberechtigt neben denen verregneter Landschaften, Industrieareale wechseln sich ab als Motive mit bukolischen Landschaften.

Beigestellt ist jeder Fotografie jeweils ein kleiner Text: Gedichte, kritische Anmerkungen, Gedanken zum Gesehenen, zum Erlebten. Der erste Eintrag stellt gleich die Sinnfrage: „Warum ich das mache, hast du gefragt. Weil ich nur wissen kann, wer ich bin, wenn ich an all meine Grenzen gehe ... Weil ich alles sein will, was ich sein könnte.“
Eric Pawlitzky bedient sich einer poetischen, überaus anschaulichen, bilderreichen Sprache: Auf dem Semmerinpass findet er „die Busparkplätze leergegähnt“, ein „schmieriger Kellner schnoddert Schnitzel auf den Tisch“. Bereits in Böhmen denkt er zum ersten Mal an das Meer, weil ihn der Geruch faulenden Kohls an Tang erinnert. Der Landschaft ist aber auch die Historie eingeschrieben, vor allem die Kriege, die hier ausgefochten worden sind, seit Johann Gottfried Seume diese Landschaften passiert hat. Das gilt insbesondere auch im Gebiet des Flusses Isonzo, der in Slowenien Soča heißt, hart umkämpft im Ersten Weltkrieg.
Mancherorts hat sich das Entscheidende nicht verändert, die Via Appia südlich von Rom haben beide, Seume und Pawlitzky, mutmaßlich in ähnlichem Zustand vorgefunden. Andernorts würde Seume nichts wiedererkennen, wenn er heute unterwegs wäre. Diesen Kontinuitäten einer- sowie Brüchen und Veränderungen andererseits gibt das Buch Raum.

„Seumes Weg“ ist gestaltet wie ein Faksimile. Eric Pawlitzky hat in ein handgemachtes, leeres Buch erst die ausgewählten Bilder eingeklebt, dann Texte begonnen, die Zettel, auf die sie geschrieben waren, wieder herausgerissen, neue eingeklebt. Diese Ästhetik ist in dem gedruckten Werk erhalten. Die Fotografien, angelehnt an die Farbigkeit der Malerei in der Spätromantik, und die mit einer mechanischen Schreibmaschine getippten Texte sehen aus wie eingeklebt. Verworfene, ausradierte Bleistiftnotizen sind zu erahnen, wo einmal Eingeklebtes beim Heraustrennen das Papier der Seiten beschädigt hat, ist das noch zu sehen. „Seumes Weg“ ist kein polierter Bildband, sondern zeigt die Summe unterschiedlicher Beobachtungen. „Ich sah“, schreibt Pawlitzky, „ein überaus lebendiges Europa abseits touristischer Pfade“. Auch wenn ihn sein Weg durch Wien, Venedig, Rom und Palermo geführt hat.

In Venedig sympathisiert Pawlitzky mit den Hütchenspielern: „Ich beneide euch. Immer gewinnt ihr das Geld mit der Gier der Ahnungslosen. Endlich kostet Dummheit Geld.“ Das Europa, das er durchwandert, hat Ecken und Kanten, mitunter auch Abgründe. Es wirkt auf den Autor hin und wieder verstörend. Aber sehr oft auch inspirierend, liebenswert, auf angenehme Weise vielschichtig. Eric Pawlitzky glaubt an den Kontinent, an eine Zusammengehörigkeit, nach dieser Reise mehr denn je. Am Ende fragt er, ein wenig kokett: „Darf ich mich jetzt Europäer nennen?“ Den Beweis hat er selbst angetreten.
Eric Pawlitzky: Seumes Weg. Lunik Verlag, Berlin 2025. 200 Seiten, 38 Euro.
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