Eine Abschiebung und ihre Folgen: "Heimat, Sprache, Körper – mir wurde alles genommen"
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Das Thema Abschiebung wird in Deutschland immer lauter diskutiert. Die Kurdin Emel, 37, hat erlebt, was es bedeuten kann, von einer Minute auf die andere das Land verlassen zu müssen.
Triggerwarnung: Dieser Text behandelt unter anderem sexualisierte Gewalt und könnte auf manche Menschen verstörend wirken. Anlaufstellen, Beratungsangebote und weitere Informationen findest du unter anderem auf den folgenden Seiten – anonym und kostenfrei:
Ich bin Emel und wurde vor 37 Jahren in Kurdistan im Osten der Türkei geboren. Als ich drei Jahre alt war, flohen meine Eltern nach Deutschland. Wir waren nur geduldet: Meine Eltern durften nicht arbeiten, und unsere Zukunft war ungewiss. Dennoch wurde Deutschland für mich zur Heimat. Meine vier Geschwister und ich sprachen Deutsch miteinander – das Kurdisch meiner Eltern beherrschten wir kaum.
Wir hatten zwei Stunden, um zu packenIm Herbst 2002 dann plötzlich die Abschiebung. Ich besuchte die zehnte Klasse und bereitete mich gerade auf meinen Realschulabschluss vor. Ich war auf dem Weg ins Bad, als es um 6 Uhr morgens an der Tür klingelte. Mehrere Männer und Frauen standen dort und teilten uns mit, dass wir noch am selben Tag abgeschoben werden sollten. Wir hatten zwei Stunden Zeit, um unsere Sachen zu packen. Dann mussten wir gehen.
In Mardin, der Heimat meiner Eltern, fühlten wir uns völlig fremd. Wir sprachen die Sprache nicht, lebten in einer anderen Kultur und hatten kein Zuhause. Wir waren mittellos und konnten nur vorübergehend bei Verwandten unterkommen. Meine Mutter wusste keinen anderen Rat, als mich, ihre älteste Tochter, zu verloben, weil sie ihre Kinder nicht versorgen konnte. Als ich mich gegen die Heirat stellte, wurde ich von meinem Verlobten entführt, vergewaltigt und zur Zwangsehe gedrängt.
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13 Jahre lang war ich in dieser Ehe gefangen. Mir war alles genommen worden: meine Heimat, meine Sprache, meine Jungfräulichkeit, mein Körper. Ich sah keinen Ausweg und unternahm mehrere Suizidversuche. Dann wurden meine beiden Kinder geboren und ich musste am Leben bleiben – ich wollte sie nicht im Stich lassen. Doch ich litt unter Depressionen und dachte jede Sekunde: "Ich muss hier raus!"
Einmal fuhr ich mit meinen Kindern im Bus zu einem Frauenhaus nach Diyarbakir, um dort zu bleiben. Doch ich fühlte mich nicht willkommen und schon gar nicht sicher. Aus Angst, meine Schwiegerfamilie könne mich finden, bekam ich eine Panikattacke und kehrte noch am selben Tag zurück.
Immer wieder stellte ich mir das Leben vor, das ich in Deutschland führen würde, und schrieb Briefe an alte Freund:innen und Sozialarbeiter:innen. "Irgendwann werde ich es schaffen!" – dieser Satz wurde zu meinem Mantra.
Der HoffnungsschimmerAls das Internet zugänglicher wurde, sparte ich für ein Handy und begann, über Facebook alte Bekannte zu kontaktieren. Ich überlegte auch, Kontakt zu Schleusern aufzunehmen, die Syrer nach Deutschland brachten. Doch letztlich war mir das mit zwei kleinen Kindern zu gefährlich, und ich ließ die Idee fallen. Alle Pläne, nach Deutschland zu kommen, scheiterten, und erneut kamen Suizidgedanken auf.
Dann tauchte ein Hoffnungsschimmer auf: Zwei deutsche Freundinnen erfuhren, dass ich über den Bundesfreiwilligendienst (BuFDi) ein Visum für Deutschland bekommen könnte – und fanden sogar eine Organisation, die mir eine BuFDi-Stelle anbot.
Meine Familie wusste, wie sehr ich litt, und half mir, meinen Mann zu überzeugen, dass ich die Stelle annehmen durfte. Wir betonten, dass unsere Gegend sehr unsicher war, denn es kam immer wieder zu Gefechten zwischen der PKK und dem türkischen Militär. So nahe an der syrischen Grenze gab es auch Befürchtungen, dass der IS sich bei uns ausbreiten könnte. Ich spielte meinem Mann vor, dass ich mich mit der Ehe abgefunden hätte, und zeigte mich so fügsam wie nie zuvor. Ich versicherte ihm, dass ich ihn später nachholen würde, sobald ich in Deutschland eine Grundlage geschaffen hätte. Ohne diese Täuschung hätte er mich niemals gehen lassen.
Ich beantragte Reisepässe, und die nächste Hürde war das Visum für meine Kinder: Der Bundesfreiwilligendienst ist nicht für Familien ausgelegt, da die Aufwandsentschädigung dafür nicht ausreicht. Doch meine Freundinnen übernahmen eine Verpflichtungserklärung für die Kinder, und die Organisation, bei der ich arbeiten sollte, erklärte sich bereit, die Lebenshaltungskosten für uns zu tragen.
Ich werde den Tag nie vergessen, an dem ich endlich das Visum in den Händen hielt. Wenige Tage später war ich mit meinen Kindern auf dem Weg nach Deutschland – in meine Heimat. Der Traum, den ich 13 Jahre lang verfolgt hatte, wurde wahr!
Befreiung: Zurück in DeutschlandSeit acht Jahren leben wir nun in Deutschland. In den ersten zwei Jahren bedrohten mein Ex-Mann und seine Familie mich noch. Schließlich gaben sie auf, und wir konnten uns scheiden lassen. Ich habe eine Therapie gemacht, meine Kinder großgezogen und in Teilzeit bei der Organisation gearbeitet, bei der ich den Freiwilligendienst gemacht habe. Meine Kinder sprechen längst besser Deutsch als Kurdisch. Nun sind sie alt genug, dass ich mich auf meine eigene Zukunft konzentrieren kann. Ich hole zurzeit meinen Schulabschluss nach, um Sozialpädagogik zu studieren. Ich möchte anderen Frauen helfen, die in ähnlichen Situationen gefangen sind, wie ich es war.
Heute spreche ich über meine Geschichte, um anderen Frauen zu zeigen, dass wir uns niemals aufgeben dürfen. Dass es sich immer lohnt, für sich einzustehen und zu kämpfen. Nichts ist in Stein gemeißelt: Auch traumatische Erfahrungen müssen uns nicht für immer prägen. Wir können wieder glücklich werden.
Brigitte
brigitte